Das Früher VI

Das Früher VI

Das rote Haus.
Vier rote Balken, die verblassen und schrumpfen.
Herr Wolf hatte es gebaut, irgendwie ist es zu mir gekommen. Wenn man sich den wenigen Regeln fügt, ist man sehr frei.

Auf dem Platz, auf dem bis vor wenigen Stunden noch ein vollständiges Haus stand, liegen nur noch vier blassrote Balken. In seinem vollständigen Zustand ist es das perfekte Rot: Es fühlt sich warm und dunkel und heimelig an, ein wenig staubig sogar. Man denkt nicht an die Farbe von Blut.

Früher war ich mit dem Haus alleine unterwegs. Heute mit meinem Kind.
Sesshafter, ruhiger müsste ich werden, das wäre besser für das Kind. Zumindest sagen das die Menschen, die ihrer vererbten und zu eigen gewordenen Tradition folgen. Vielleicht sind sie neidisch auf jene, die Freiheit ihr größtes Eigentum nennen und ihre eigenen Traditionen gestalten. Und vielleicht haben sie Recht, dass es besser für das Kind wäre.
Scheinbar hat sich bisher niemand gefragt, warum das Haus mit mir verschwindet, wenn ich weiterziehe. Es ist, als würde das rote Haus einfach auftauchen und wenn es wieder weg ist, nimmt es die Erinnerungen der Menschen mit sich.

Ich blicke auf die vier roten Balken, die eine handliche Länge von nunmehr 30 Zentimetern aufweisen. Sie passen hervorragend in meinen Rucksack, der nichts weiter enthält als die Dinge, die man für gewöhnlich auf einen Ausflug von einigen Stunden mitnimmt.

Als ich das erste Mal mit dem Haus umzog, packte ich alles in Kartons und Koffer und trug sie hinaus. Dieser Berg hätte einen Kombi mit großzügigem Anhänger benötigt. Ich hatte beides nicht.
Beim Einzug war bis auf meine persönlichen Dinge alles vorhanden und ich wunderte mich kein bisschen, dass das gesamte Interieur genau meinen Vorstellungen und unbewussten Wünschen entsprach.
Das Haus war damals gnädig zu mir und ließ sich an der exakten Stelle nochmals aufbauen. Ich schleppte alles wieder hinein und nahm nur meine Wanderutensilien mit hinaus.

Ich überlege, ob ich staunen oder mich ängstigen sollte, als zum Schluß diese vier kleinen, roten Kanthölzer vor mir liegen. Doch wer staunt schon über völlige Selbstverständlichkeit. Zufrieden fühle ich mich und hebe die Hölzer auf.

Ich wache immer wieder an dieser Stelle auf. Ich würde so gerne wissen, wie dieser Traum weiter geht. Welche Orte einfach so auftauchen und welche ich selbst erschaffe. Und vielleicht würde ich diesen Herrn Wolf sogar treffen und er könnte mir etwas über das rote Haus erzählen. Und warum ich seinen Namen weiß.
Das Einzige, dass sich in all diesen Traum-Jahren geändert hat, ist mein Kind, das nun plötzlich in diesem Traum auftaucht. Und für mein Kind ist es in diesem Traum absolut selbstverständlich, auf diese Art zu leben und zu reisen.
Was Psychologen wohl dazu sagen würden…

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